
Wie radikale Kundenzentrierung Marketing und Agenturen verändert
Mit Customer Centricity richten sich Unternehmen radikaler auf den Kunden aus als bisher, zeigt eine Studie mit DAX Unternehmen von Rlevance. Das neue Ziel langfristiger Kundenbeziehungen hat Folgen für Marketing und Agenturen. Christian Vatter erklärt in einem kürzlich in der “New Business” erschienenen Artikel, wie Agenturen der neuen Entwicklung begegnen können.
Begriffen wie Design Thinking, User Centered Innovation, Customer Experience oder Service Design begegnet man in letzter Zeit im Unternehmenskontext immer öfter. Sie sind die sichtbaren Zeichen einer Entwicklung, die den Kunden radikaler ins Zentrum der Unternehmensaufmerksamkeit stellt als dies je der Fall war. Damit reagieren Unternehmen auf die Herausforderungen unserer Zeit: Überangebot, zunehmender Kundenanspruch, einfache Wechselmöglichkeit. Als Reaktion gründen Unternehmen, häufig mit Nähe zum Silicon Valley, Bereiche deren Auftrag es ist, das Unternehmen besser auf den Kunden auszurichten – eine Transformation zur customer centric organization.
Häufig gilt Customer Centricity als Innovationsmethode, die beim Kunden beginnt und dessen Bedürfnisse und Voraussetzungen in Produkte, Features und Experiences übersetzt. Customer Centricity ist aber mehr als das: ein Managementprinzip, das auf langfristige Kundenbeziehungen statt auf kurzfristigen Abverkauf setzt, und sich entsprechend in Strukturen, Prozessen, KPIs und der Kultur des Unternehmens wiederfindet. In der Folge ist davon auch das Marketing betroffen, von dem gefordert wird, Kundenbeziehungen und Kundeninteraktionen ganzheitlicher und für Kunden werthaltiger zu denken. Basis dieser Erkenntnis ist eine von uns kürzlich veröffentlichte Interviewstudie mit den Treibern der Transformation zu mehr Kundenzentrierung bei DAX-Unternehmen wie der Allianz, Lufthansa oder E.ON.

Kundenorientierung vs. Kundenzentrierung, Quelle “Erfolgsfaktor Customer Centricity”, Vatter & Seyr 2017
Wenn das Marketing seine Ziele ändert, hat dies Folgen für Kommunikationsagenturen. Bemerkbar ist die Veränderung bereits durch zunehmende Konkurrenz seitens Unternehmensberatungen und Designagenturen. Was bedeutet diese Entwicklung aber genau für die Zukunft von Agenturen und wie können sie weiterhin relevant für Kunden bleiben? Wir haben drei Bereiche identifiziert.
Bester Kenner des Kunden
Radikale Kundenzentrierung bedeutet, möglichst gut zu verstehen, was Endkunden antreibt. Agenturen werden umso wertvoller für ihre Auftraggeber, je mehr und je umfassender sie für dieses Verständnis sorgen und zu einem sinnvollen Ganzen integrieren. Durch Strategic Planning sind Agenturen bereits nahe am Endkunden, allerdings ist die Art des gewonnenen Wissens häufig einseitig. Es werden vorwiegend bewusste Einstellungen und Empfindungen der Kunden untersucht und weniger sein wirkliches Verhalten erforscht. Gleichzeitig wird mit “Big Data” Verhalten quantifiziert aber nicht seine Beweggründe erklärt. Zum umfassenden Bild gehört neben der Einstellungsmessung jedoch auch, zu verstehen wie ein Produkt verwendet wird und was Nutzer letztlich damit bezwecken wollen, dies vor allem jenseits der bewussten Reflektion. “Thick Data”- durch psychologische, ethnographische und anthropologische Methoden gewonnene Erkenntnisse – hilft hier weiter und klärt vor allem das “warum” hinter Verhalten. Kombiniert man die Perspektiven ergibt sich ein erhellendes Ganzen mit echtem strategischen Mehrwert. Für Details sei auf den exzellenten Artikel “Big Data Is Only Half the Data Marketers Need” im Harvard Business Review 11/2015 verwiesen. Es gilt also, das was heute unter “Designresearch” bekannt ist in den bisherigen Werkzeugkasten zu integrieren und sich über relevantes Kundenwissen als erste Adresse für umfassendes Kundenverständnis zu etablieren.
Nützlich machen statt nur vermitteln
Wenn langfristige Kundenbeziehungen das neue Ziel sind, wird neben der Etablierung der Beziehung auch ihre Pflege wichtig. Zur ganzheitlichen Beziehungssteuerung gehört neben der Kommunikation auch Produkt-, Service- und Customer Experience. Aus der Markentechnik sei hier die Analogie zur Person bemüht: Nicht nur was ich von Herrn Maier halte definiert meine Beziehung zu ihm, sondern auch und vor allem wie Herrn Maier sich mir gegenüber verhält. Kommunikation beeinflusst wie ich über etwas denkt, Experience beeinflusst, wie es mich in dem Moment fühlen lässt – und kumuliert über die Begegnungen zum Gesamteindruck. Hier sei auf den vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman konstatierten Unterschied zwischen Remembering Self und Experiencing Self verwiesen. Bei der Erlebnisvermittlung spielen weniger die Zieldimensionen Aufmerksamkeit, Überraschung und Involviertheit eine Rolle, vielmehr geht es hier um Nützlichkeit, Reibungslosigkeit und Angenehmheit. Über die Art und Weise, den Charakter, des Erlebten lassen sich aber auch Botschaften vermitteln. Für Agenturen bedeutet dies, über Kommunikation hinaus auch beziehungsprägende Erlebnisse zu gestalten: Wie sollen Endkunden die Interaktion mit dem Call Center erleben, wie sieht die Shopping Experience aus, welche Gefühle soll der Umgang mit dem Kundendienst vermitteln? Sowohl bei Kommunikation als auch Experience spielt Kreativität, das Stammkapital von Agenturen, eine wichtige Rolle, nur wird sie anders eingesetzt. Ein gutes Beispiel für die gelungene Integration von Kommunikation und nützlichen, markenprägenden Erlebnissen sind “Brand Services”, für Endkunden kostenfreie, nutzbringende Services, die jedoch über das Serviceerleben relevante Markeninhalte vermitteln und damit Versprechen erlebbar einlösen. Als klassisches Beispiel sei der “Kodak Picture Spot” erwähnt, der Nutzern zu schönen Fotos verhalf und dabei Kodak professionell aussehen ließ.

Der Kodak Picture Spot in den Disney Studios empfiehlt: “This location recommended by top photographers to help you tell the story of your visit in pictures”, Quelle Wikipedia
Iterative und co-kreative Prozesse
Zuletzt kann die Beziehung Agentur-Auftraggeber kundenzentrierter gestaltet werden. Hier sind vornehmlich Arbeitsprozesse der Customer Centricity Stellhebel. Bisherige Kreationsprozesse verlaufen nach dem Wasserfall-Modell und laufen damit Gefahr, ineffizient zu sein. Nach einem mehr oder weniger guten Briefing schlagen Agenturen weitreichend ausgearbeitete Lösungen vor, die vom Auftraggeber als passend angenommen oder abgelehnt werden. Manchmal wiederholt sich der Prozess, im schlimmsten Fall immer wieder, und das Vorgehen gleicht dem Kinderspiel Topfschlagen. Oftmals werden Agenturpartner nach diesem Prinzip ausgewählt, dabei sollte die Beziehung nicht auf One-Shot-Methoden basieren. Nicht nur sinnvoller, sondern schneller und zeitgemäßer sind iterative bzw. agile Prozesse. Kunde und Agentur erarbeiten in einem “co-kreativen” Workshop gemeinsam Lösungen. Der Vorteil: Das Briefing kann hinterfragt, die strategisch Richtungen geklärt, und kreative Routen direkt überprüft und adaptiert werden, bis man der idealen Lösung sehr nahe ist. So entsteht ein gemeinsam abgestimmtes Grundgerüst auf das man später zur beiderseitigen Prozess-Erleichterung referenzieren kann. Dass das erarbeitet Ergebnis von der Agentur weiterentwickelt werden muss, vor allem kreativ, versteht sich von selbst. So lassen sich für beide Seiten ressourcenschonend, schnell und treffsicher Ergebnisse erzielen. Dieser Prozess hat sich in unserer Arbeit bei der Entwicklung von Marken, Corporate Design und Kampagnen bewährt, ohne Abstriche beim kreativen Outcome. Agenturen müssen solche Vorgehensweisen für sich weiterentwickeln, Nutzen und Erfolgsgeschichten kommunizieren und so ihre Auftraggeber langsam dafür begeistern.
Schon Philip Kotler wusste: Es ist wird nur der erfolgreich sein, wer sich ganzheitlich an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden orientiert und entsprechende Angebote macht. Customer Centricity macht erfolgreich, indem sie Loyalität und Customer Lifetime Value steigert, Abwanderung verringert, Kundenempfehlungen fördert und Shitstorms verhindert. Dies gilt für Unternehmen gegenüber Endkunden, aber genauso für Agenturen gegenüber Unternehmenskunden. Darüber hinaus ist Kundenzentrierung ein Zeichen von Reife und Wachstum einer Organisation. Die Ausrichtung am Menschen gibt Sinn, ist ein “higher purpose”, und damit das nobelste Ziel, das ein Unternehmen verfolgen kann. Denn nur eine Wirtschaft, die sich um Menschen dreht, ist eine nachhaltige Wirtschaft.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in: New Business, Nr. 7 vom 12. Februar 18